sábado, 23 de abril de 2011

Via fatale

ALS DER BUS im dichten Nebel verschwindet, ist die Stimmung noch gut. Es werden Witze erzählt, und Gelächter erfüllt den Innenraum des kleinen Busses. Es ist Donnerstag, doch einige Lehrerinnen und Lehrer, die in Íntag unterrichten, sind bereits auf dem Weg nach Otavalo. Wegen einer Fortbildung, sagen sie. Weil sie faul sind und sich ein langes Wochenende gönnen, behaupten böse Zungen.

Auch ich sitze in diesem Bus. Der letzte Bus des Tages, der Apuela für gewöhnlich zwischen drei und vier Uhr nachmittags verlässt, fuhr heute schon um kurz nach halb drei an der Bibliothek vorbei, als ich noch beschäftigt war. Mein Vorhaben, bereits am Donnerstagabend in Otavalo zu sein, um freitags bereits früh am Morgen nach Atuntaqui zu fahren, hatte ich eigentlich schon abgeschrieben, als sich der kleine weiße Bus langsam die Hauptstraße Apuelas hoch- und Otavalo entgegenarbeitete. Zum Glück gab es dort noch einen Sitzplatz, und so musste ich meine Pläne nicht ändern.

Fünf Kilometer oberhalb von Apuela passieren wir Pucará, weitere fünf Kilometer östlich durchqueren wir Santa Rosa. Nun beginnt der steilste Anstieg, hinauf zu La Delicia, hinein in die Wolken, in den Nebel. Die Stimmung ist gut, noch. Doch der Bus hat kaum genügend Kraft, sich und die Passagiere den Berg hinaufzutransportieren: Das Getriebe ist beschädigt, was sich vor allem dann bemerkbar macht, wenn das Fahrzeug anfährt. Jedes Mal, wenn uns ein Pick-Up entgegenkommt und der Busfahrer anhält, um den Gegenverkehr passieren zu lassen, herrscht Stille im Bus: Wird der Motor es schaffen, am Hang wieder anzufahren? Meistens gelingt es nicht auf Anhieb, was den Fahrer dazu veranlasst, einige Meter zurückzurollen, auf einen ebeneren Streckenabschnitt. Rückwärts. Im Nebel. Bei weniger als zwanzig, vielleicht weniger als zehn Metern Sicht. In einem Land, in dem man von vorausschauendem und den Witterungsverhältnissen angepasstem Fahren noch nichts zu gehört haben scheint.

Irgendwie klappt es jedes Mal, den Bus den Berg hinauf zu treiben. Er kreischt, kämpft und kollabiert einige Male beinahe, aber immer geht es weiter. Bergauf! Hinein in den Nebel, hinein in den Regen. Bis uns zwei weitere Pick-Ups entgegenkommen: Die Fahrer teilen unserem Busfahrer mit, dass es wegen eines Erdrutsches nicht möglich sei, nach Otavalo zu fahren. »Nur die großen Fahrzeuge«, also nur der reguläre Bus und große Lastwagen, könnten diesen Erdrutsch durchqueren. Niemand weiß etwas Genaues – der Fahrer unseres sterbenden Gefährtes entscheidet sich dennoch zum Umkehren. Im Bus bleibt es still: Wird aus dem langen Wochenende nichts?

Es geht einige Kilometer zurück, bis nach Santa Rosa. Hier regnet es nicht, und an die matschige Piste und den möglichen Erdrutsch denkt man hier, im Tal, nicht. Nun kommen uns die beiden Pick-Ups, deren Fahrer uns vor dem Erdrutsch gewarnt haben, wieder entgegen. Sie halten neben unserem Bus an. »Nur die kleinen Fahrzeuge«, also alle bis auf den regulären Bus und große Lastwagen könnten den Erdrutsch durchqueren: Es sei einen Versuch wert, die kurvige Strecke noch einmal zurückzulegen, um schließlich vielleicht doch bis nach Otavalo zu gelangen. Wir drehen wieder um.

Als der Bus bereits bei geringsten Steigungen in die Knie geht, macht sich Galgenhumor breit. So recht glaubt niemand daran, dass wir heute noch nach Otavalo kommen. Doch einige Kilometer weiter, nachdem unser Fahrzeug es tatsächlich geschafft hat, die steilsten Passagen hinter sich zu lassen, keimt wieder Hoffnung auf – die beiden Pick-Ups sind uns noch nicht entgegengekommen, und wir sind bereits fast am Erdrutsch angekommen. Sollte es tatsächlich möglich sein, die Gefahrenstelle unbeschadet zu passieren?

Der Erdrutsch sieht beängstigend aus: Links der Straße türmen sich riesige Haufen aus Sand, Geröll und Matsch auf. Die beinahe senkrechte Wand, die hier eins über der Straße thronte, wurde von den anhaltenden Niederschlägen aufgeweicht und ist im Laufe der vergangenen Wochen immer weiter abgerutscht. Beinahe täglich gab es Erdrutsche. Die Straße selbst sieht eher aus wie ein Fluss; Unmengen an Regenwasser strömen uns entgegen, dazwischen sind riesige Schlammpfützen zu sehen. Rechts der Straße geht es senkrecht bergab. Die Erdrutsche haben bereits eine riesige Schneise in den Nebelwald gerissen.

Es regnet noch immer, auch der Nebel hat sich nicht verzogen. Regenwasser läuft in Sturzbächen über das lockere Erdreich. Just in dem Moment, in dem sich unser Fahrer ein Herz fasst und den Bus beschleunigt, rollt ein Stein, groß wie ein Sitzball, auf die Fahrbahn herab, verfehlt den Bus nur knapp. Der Busfahrer reagiert auf die erschrockenen Rufe im Bus – und bremst. Mitten im Erdrutsch. Danach rollt er, wieder einmal, rückwärts in die Ausgangssituation. Wie soll es weitergehen? Einige beharren darauf, nach Otavalo zu fahren: Es wird schon nichts passieren! Andere sind damit einverstanden, wollen den Erdrutsch jedoch zu Fuß durchqueren und auf der anderen Seite der matschigen Gefahr vom Bus mitgenommen werden. Schlussendlich nimmt der Bus wieder Anlauf, und durchquert die Gefahrenzone: Der Regen droht den Rest des Hanges auch noch ins Tal zu schwemmen, der Motor droht mit Streik – und am Ende schaffen wir es doch.

Die Lehrerinnen und Lehrer im Bus sind erleichtert, und auch der Fahrer scheint nicht ganz glauben zu können, was er da gerade gemacht hat. Er hält sich jedenfalls zurück mit seinen Witzen und scheint immer noch angespannt zu sein. Die Fahrt geht dennoch weiter. Kilometer für Kilometer nähern wir uns Otavalo. Als wir dort ankommen, sind bereits über drei Stunden vergangen seit der Abfahrt aus Apuela – normalerweise braucht der Linienbus zwei bis zweieinhalb Stunden, mit kleinen Fahrzeugen geht es für gewöhnlich schneller. Heute nicht. Aber: Als der Bus aus dem dichten Nebel auftaucht, ist die Stimmung wieder gut.
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DIE KLEINE STRASSE von Otavalo nach Íntag hat den Namen eigentlich nicht verdient: Sie ist an keiner Stelle asphaltiert und nur ein wenigen Dörfern mit Steinen befestigt. Und doch ist sie die einzige Möglichkeit, Íntag per Fahrzeug zu erreichen und zu verlassen. Noch bis in die siebziger Jahre hinein war die Situation für die inteños schwieriger: Es gab nur einen Pfad, über den man innerhalb von mindestens zwei Tagen nach Otavalo gelangen konnte. Durch die vielen Niederschläge wird die Fahrbahn jedoch immer mehr ausgewaschen: Tiefe Furchen ziehen sich über und durch die Piste und machen eine schnelle und/oder angenehme Fahrt unmöglich.

Momentan wird die Fahrbahn an vielen Stellen ausgebessert. Ob die neue Fahrbahndecke, bestehend aus viel Erde und wenig Schotter, langfristige Verbesserungen mit sich bringt, darf bezweifelt werden. Es scheint eine Macke zu sein, die ich bisher in allen lateinamerikanischen Ländern, die ich bereist habe, gesehen habe: Langfristige Planung findet nicht statt, hat keine Anhänger. Lieber schnell und billig (und also häufig und unterm Strich gar nicht kostengünstig) als gründlich und etwas teurer (aber dauerhaft und am Ende doch sparsam).

Trotzdem könnte Besserung in Sicht sein. Die Provinzregierung denkt momentan darüber nach, eine asphaltierte Straße nach Íntag zu bauen und stellt die nötigen Nachforschungen an. Es gibt drei alternative Straßenverläufe: Entweder wird die bestehende Fahrbahn einfach übernommen und asphaltiert. Oder sie wird den Anforderungen angepasst und asphaltiert, was leichte Abweichungen vom aktuellen Verlauf bedeuten würde: Einige Kurven sind nicht regelkonform und dürfen laut Gesetz nicht befahren werden. Dass man als Planer einer Fahrbahn überhaupt in Erwägung zieht, den aktuellen, gesetzwidrigen Straßenverlauf zu übernehmen, finde ich schon ungeheuerlich. Die dritte Alternative wäre eine komplett neue Trasse.

Natürlich haben alle drei Möglichkeiten Vor- und Nachteile.
Für die erste Überlegung, die vorhandenen Straße einfach zu asphaltieren, spricht zweifelsohne, dass dies keine (oder kaum) weitere Abholzung bedeuten würde. Dagegen spricht, wie gesagt, dass einige Kurven für den Verkehr von Kraftfahrzeugen eigentlich nicht geeignet sind. Es bliebe auch in Zukunft eng, wenn Busse und Lastwagen auf der Strecke verkehren.
Für die zweite Idee, die vorhandene Strecke auszubessern, spricht der relativ kleine Aufwand für eine ordentliche Fahrbahn. Doch es ist bereits abzusehen, dass bei diesem Vorhaben einige Grundstücke in Straße verwandelt werden. Das von Carolina, der Chefin der Zeitung, zum Beispiel.
Und die dritte Möglichkeit wäre aus Sicht aller Umweltschützerinnen und Umweltschützer ein Desaster. Eine schöne, neue, breite Fahrbahn – mitten durch den schrumpfenden Nebelwald, mitten durch eine der artenreichsten Gegenden der Welt.

Viele der Menschen, die hier leben, fordern die Straße vehement. Und jedes Dorf möchte am liebsten direkt an der Straße liegen. In Pucará möchte man also, dass die bisherige Trasse beibehalten wird: Weil man so an der neuen Straße leben würde. In Plaza Gutiérrez bevorzugt man die zweite oder dritte Lösung, um künftig nicht mehr so weit ab vom Schuss zu leben.

Dabei geht es wenig um Umweltschutz. Die Beweggründe der inte ños sind andere: Man möchte endlich eine Straße haben, die dazu geeignet ist, landwirtschaftliche Erzeugnisse schnell und günstig und in großen Mengen nach Otavalo zu transportieren. Man möchte mehr Busverbindungen haben. Man möchte, dass die Fahrt nach Íntag für auswärts lebende Familienangehörige leichter vonstatten geht. Ob es in Otavalo eine Nachfrage für Íntag-Produkte gibt? (Bananen, Mais, Zuckerrohr etc. werden auch andernorts angebaut, wesentlich näher an Otavalo und Ibarra.) Ob genügend Nachfrage für mehr Busverbindungen vorhanden ist? Ob die Verwandten bei einer besseren Straße tatsächlich jede Woche zu Besuch kämen? Das weiß niemand.

Sicher ist jedoch: Es wird eine große Umstellung sein, plötzlich an einer gut ausgebauten Straße zu leben. Der Verkehr wird voraussichtlich zunehmen und sicherlich schneller werden. Wie lange die Kindern, die jetzt auf oder direkt an der Straße spielen, brauchen, bis sie lernen, mit der neuen Situation umzugehen, wird sich zeigen. Mehr Verkehr heißt auch: Mehr Müll. Der massige Plastikmüll, der heutzutage am Straßenrand eingesammelt werden kann, ist erschreckend: Alles wird in Plastikverpackungen verkauft, und niemand macht sich die Mühe, diese Verpackungen in einen Mülleimer zu werfen. Die Bewohnerinnen und Bewohner Íntags, die so großen Wert auf Umweltschutz legen (und ihren Müll ins Feld werfen oder hinter dem Haus verbrennen), hören scheinbar gerne auf, sich über ihre Umwelt Gedanken zu machen, sobald sich ihnen irgendeine Form von Profit bietet. Immerhin: Es gibt Menschen, die davor warnen, eine Asphaltstraße zu bauen – weil dann alle Frauen Männer von außerhalb und alle Männer Frauen von außerhalb heiraten würden, und Íntag bald ausgestorben wäre. Dieses Argument könnte vielleicht ziehen bei den lieben inteños.

2 comentarios:

  1. Oh Simon,
    wie gut, dass ich nicht so genau weiß, was Du alles erlebst. Ich würde tausend Muttertode sterben!
    Hoffentlich überstehst Du die nächsten Wochen auch noch gut und kommst bald heil zurück!
    Alles Gute und frohe Ostern!
    mama

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  2. ich halte mich zurück und genieße :) Gratulation an die Fans in Ecuador!

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