sábado, 9 de abril de 2011

Vergangenheit

EIN INTERESSANTES PHÄNOMEN in Íntag, Ecuador, Lateinamerika und vermutlich einigen anderen Ländern der sogenannten Dritten Welt auf anderen Kontinenten ist die Zeit. Dazu fällt mir immer wieder der Spruch ein, dass wir in den Industrieländern die Uhr hätten - und die Leute hier eben die Zeit. Zeitdruck kommt nie auf hier, nicht einmal bei der Zeitung: Wenn die Fristen in der Redaktion nicht eingehalten werden können, liegt das nicht an der langsamen und ineffizienten Arbeitsweise, sondern am zu früh angesetzten Ultimatum, das dann dementsprechend nach hinten verschoben wird.

Als ich also am Freitag früh aufbrach, um nach Apuela und von dort nach Peñaherrera, auf der anderen Seite des Tals, zu laufen, um dort wiederum mit der Umfrage weiterzukommen, die ich derzeit durchführe, wollte ich auf dem Weg eigentlich nicht viel Zeit verlieren: Vor mir lagen immerhin mehr als zwanzig Kilometer und einige Gespräche; auf Busfahrten wollte ich verzichten und wusste dass ich gegen sechs Uhr am Abend wieder bei Doña Emilia sein müsste.

Natürlich wurde mir ein Strich durch den Zeitplan gemacht. Die erste Frau, die ich um die Teilnahme an der Umfrage bat, wies mich ab und riet mir, beim Haus gegenüber zu fragen. Dort wohnt Don César Gilberto Pavón, den ich zwar kenne, dessen Adresse ich aber noch nicht in Erfahrung gebracht hatte. Ich rief also von der Straße aus und fragte, ob ich eintreten könnte. Und da trat Don César aus dem Haus heraus und öffnete mir das Gartentor.

Don César verfasst für jede Ausgabe des Periódico ÍNTAG ein Gedicht und ist somit einer der ganz seltenen, vielleicht sogar der einzige Poet in Íntag. Er lebt, wie ich jetzt weiß, in einem kleinen Lehmhaus etwas außerhalb Apuelas, umgeben von Bananenstauden und Kaffepflanzen. Seine Familie kam erstmals neunzehnhundertvier nach Íntag, als ein Bruder seines Großvaters Land suchte, nachdem er vom Gut seines Großgrundbesitzers geflohen war. Im Laufe der Jahre zogen weitere Teile der Familie nach, unter anderem Don Césars Großvater.

Eine von Don Pavóns Töchtern war von Geburt an taubstumm. Weil sie jedoch sonst ohne weitere Einschränkungen lebte, fiel sie in Íntag kaum auf. Sie arbeitete auf den Feldern und gebahr neunzehnhundertfünfundfünzig ihr einziges Kind, Don César. Der wurde von einer Tante großgezogen. Er interessierte sich sehr für Poesie und Musik, spielte in einigen Musikgruppen und nahm rege am sozialen und politischen Leben in Íntag teil.

Ein paar Episoden seiner persönlichen Geschichte schilderte mir Don César, als ich am Freitag bei ihm vor der neuen, sich noch im Bau befindlichen Holzhütte saß, um eigentlich nur ein paar Fragen für die Umfrage zu stellen. Aus den geplanten zwanzig Minuten wurden dann rund zwei Stunden: Ich durfte mir sämtliche Fotos ansehen, die der Herr geschossen hatte, und ein paar alte Aufnahmen aus seiner Jugend.

Es war irgendwie surreal, wie Don César, dessen Hautfarbe im Vergleich zu der seiner Vorfahren schon sehr verblasst ist (sein Vater war ein Mestize), da vor mir saß: Mit seinen Zähnen, die so weiß und gerade und makellos sind, dass ich ihre Echtheit bezweifle, seinen Händen, denen man die harte Feldarbeit deutlich ansieht, seinen Füßen, die vom Barfußlaufen ganz schwarz sind - und zeigt mir Bilder aus den Siebzigern, auf denen er mit Afro, Koteletten, und Diskooutfit zu sehen ist!

Zur gewohnten Zeitverzögerung, die ich schon zu genüge kenne, gesellte sich also plötzlich dieses Element, dessen Existenz ich in Íntag nie erwartet hätte: Die Bäuerinnen und Bauern hier sehe ich nun jedenfalls mit anderen Augen. Waren sie vielleicht vor dreißig oder vierzig Jahren alle eher auf Tanzflächen in der Hauptstadt zu finden als auf ihren Feldern, wie man heute meinen könnte?

1 comentario:

  1. Lieber Simon,

    es ist schön, immer wieder von deinen Erlebnissen zu lesen und dabei mit in dein ecuadorianisches Leben hineingezogen zu werden. Durch deinen Schreibstil fühlt man sich fast so, als wäre man mit auf deiner Reise :)
    Eine Anfrage/ Bitte hätte ich dennoch: Ich mag deine Landschaftsfotos und die Fotos der Eiheimischen. ABER: Es wäre schön, DICH mal auf einem der schönen Fotos zu sehen. Denkst du, das bekommst du hin?

    Fühl dich gedrückt aus dem frühlingshaften Hessen,
    deine Helenita

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