sábado, 23 de abril de 2011

Via fatale

ALS DER BUS im dichten Nebel verschwindet, ist die Stimmung noch gut. Es werden Witze erzählt, und Gelächter erfüllt den Innenraum des kleinen Busses. Es ist Donnerstag, doch einige Lehrerinnen und Lehrer, die in Íntag unterrichten, sind bereits auf dem Weg nach Otavalo. Wegen einer Fortbildung, sagen sie. Weil sie faul sind und sich ein langes Wochenende gönnen, behaupten böse Zungen.

Auch ich sitze in diesem Bus. Der letzte Bus des Tages, der Apuela für gewöhnlich zwischen drei und vier Uhr nachmittags verlässt, fuhr heute schon um kurz nach halb drei an der Bibliothek vorbei, als ich noch beschäftigt war. Mein Vorhaben, bereits am Donnerstagabend in Otavalo zu sein, um freitags bereits früh am Morgen nach Atuntaqui zu fahren, hatte ich eigentlich schon abgeschrieben, als sich der kleine weiße Bus langsam die Hauptstraße Apuelas hoch- und Otavalo entgegenarbeitete. Zum Glück gab es dort noch einen Sitzplatz, und so musste ich meine Pläne nicht ändern.

Fünf Kilometer oberhalb von Apuela passieren wir Pucará, weitere fünf Kilometer östlich durchqueren wir Santa Rosa. Nun beginnt der steilste Anstieg, hinauf zu La Delicia, hinein in die Wolken, in den Nebel. Die Stimmung ist gut, noch. Doch der Bus hat kaum genügend Kraft, sich und die Passagiere den Berg hinaufzutransportieren: Das Getriebe ist beschädigt, was sich vor allem dann bemerkbar macht, wenn das Fahrzeug anfährt. Jedes Mal, wenn uns ein Pick-Up entgegenkommt und der Busfahrer anhält, um den Gegenverkehr passieren zu lassen, herrscht Stille im Bus: Wird der Motor es schaffen, am Hang wieder anzufahren? Meistens gelingt es nicht auf Anhieb, was den Fahrer dazu veranlasst, einige Meter zurückzurollen, auf einen ebeneren Streckenabschnitt. Rückwärts. Im Nebel. Bei weniger als zwanzig, vielleicht weniger als zehn Metern Sicht. In einem Land, in dem man von vorausschauendem und den Witterungsverhältnissen angepasstem Fahren noch nichts zu gehört haben scheint.

Irgendwie klappt es jedes Mal, den Bus den Berg hinauf zu treiben. Er kreischt, kämpft und kollabiert einige Male beinahe, aber immer geht es weiter. Bergauf! Hinein in den Nebel, hinein in den Regen. Bis uns zwei weitere Pick-Ups entgegenkommen: Die Fahrer teilen unserem Busfahrer mit, dass es wegen eines Erdrutsches nicht möglich sei, nach Otavalo zu fahren. »Nur die großen Fahrzeuge«, also nur der reguläre Bus und große Lastwagen, könnten diesen Erdrutsch durchqueren. Niemand weiß etwas Genaues – der Fahrer unseres sterbenden Gefährtes entscheidet sich dennoch zum Umkehren. Im Bus bleibt es still: Wird aus dem langen Wochenende nichts?

Es geht einige Kilometer zurück, bis nach Santa Rosa. Hier regnet es nicht, und an die matschige Piste und den möglichen Erdrutsch denkt man hier, im Tal, nicht. Nun kommen uns die beiden Pick-Ups, deren Fahrer uns vor dem Erdrutsch gewarnt haben, wieder entgegen. Sie halten neben unserem Bus an. »Nur die kleinen Fahrzeuge«, also alle bis auf den regulären Bus und große Lastwagen könnten den Erdrutsch durchqueren: Es sei einen Versuch wert, die kurvige Strecke noch einmal zurückzulegen, um schließlich vielleicht doch bis nach Otavalo zu gelangen. Wir drehen wieder um.

Als der Bus bereits bei geringsten Steigungen in die Knie geht, macht sich Galgenhumor breit. So recht glaubt niemand daran, dass wir heute noch nach Otavalo kommen. Doch einige Kilometer weiter, nachdem unser Fahrzeug es tatsächlich geschafft hat, die steilsten Passagen hinter sich zu lassen, keimt wieder Hoffnung auf – die beiden Pick-Ups sind uns noch nicht entgegengekommen, und wir sind bereits fast am Erdrutsch angekommen. Sollte es tatsächlich möglich sein, die Gefahrenstelle unbeschadet zu passieren?

Der Erdrutsch sieht beängstigend aus: Links der Straße türmen sich riesige Haufen aus Sand, Geröll und Matsch auf. Die beinahe senkrechte Wand, die hier eins über der Straße thronte, wurde von den anhaltenden Niederschlägen aufgeweicht und ist im Laufe der vergangenen Wochen immer weiter abgerutscht. Beinahe täglich gab es Erdrutsche. Die Straße selbst sieht eher aus wie ein Fluss; Unmengen an Regenwasser strömen uns entgegen, dazwischen sind riesige Schlammpfützen zu sehen. Rechts der Straße geht es senkrecht bergab. Die Erdrutsche haben bereits eine riesige Schneise in den Nebelwald gerissen.

Es regnet noch immer, auch der Nebel hat sich nicht verzogen. Regenwasser läuft in Sturzbächen über das lockere Erdreich. Just in dem Moment, in dem sich unser Fahrer ein Herz fasst und den Bus beschleunigt, rollt ein Stein, groß wie ein Sitzball, auf die Fahrbahn herab, verfehlt den Bus nur knapp. Der Busfahrer reagiert auf die erschrockenen Rufe im Bus – und bremst. Mitten im Erdrutsch. Danach rollt er, wieder einmal, rückwärts in die Ausgangssituation. Wie soll es weitergehen? Einige beharren darauf, nach Otavalo zu fahren: Es wird schon nichts passieren! Andere sind damit einverstanden, wollen den Erdrutsch jedoch zu Fuß durchqueren und auf der anderen Seite der matschigen Gefahr vom Bus mitgenommen werden. Schlussendlich nimmt der Bus wieder Anlauf, und durchquert die Gefahrenzone: Der Regen droht den Rest des Hanges auch noch ins Tal zu schwemmen, der Motor droht mit Streik – und am Ende schaffen wir es doch.

Die Lehrerinnen und Lehrer im Bus sind erleichtert, und auch der Fahrer scheint nicht ganz glauben zu können, was er da gerade gemacht hat. Er hält sich jedenfalls zurück mit seinen Witzen und scheint immer noch angespannt zu sein. Die Fahrt geht dennoch weiter. Kilometer für Kilometer nähern wir uns Otavalo. Als wir dort ankommen, sind bereits über drei Stunden vergangen seit der Abfahrt aus Apuela – normalerweise braucht der Linienbus zwei bis zweieinhalb Stunden, mit kleinen Fahrzeugen geht es für gewöhnlich schneller. Heute nicht. Aber: Als der Bus aus dem dichten Nebel auftaucht, ist die Stimmung wieder gut.
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DIE KLEINE STRASSE von Otavalo nach Íntag hat den Namen eigentlich nicht verdient: Sie ist an keiner Stelle asphaltiert und nur ein wenigen Dörfern mit Steinen befestigt. Und doch ist sie die einzige Möglichkeit, Íntag per Fahrzeug zu erreichen und zu verlassen. Noch bis in die siebziger Jahre hinein war die Situation für die inteños schwieriger: Es gab nur einen Pfad, über den man innerhalb von mindestens zwei Tagen nach Otavalo gelangen konnte. Durch die vielen Niederschläge wird die Fahrbahn jedoch immer mehr ausgewaschen: Tiefe Furchen ziehen sich über und durch die Piste und machen eine schnelle und/oder angenehme Fahrt unmöglich.

Momentan wird die Fahrbahn an vielen Stellen ausgebessert. Ob die neue Fahrbahndecke, bestehend aus viel Erde und wenig Schotter, langfristige Verbesserungen mit sich bringt, darf bezweifelt werden. Es scheint eine Macke zu sein, die ich bisher in allen lateinamerikanischen Ländern, die ich bereist habe, gesehen habe: Langfristige Planung findet nicht statt, hat keine Anhänger. Lieber schnell und billig (und also häufig und unterm Strich gar nicht kostengünstig) als gründlich und etwas teurer (aber dauerhaft und am Ende doch sparsam).

Trotzdem könnte Besserung in Sicht sein. Die Provinzregierung denkt momentan darüber nach, eine asphaltierte Straße nach Íntag zu bauen und stellt die nötigen Nachforschungen an. Es gibt drei alternative Straßenverläufe: Entweder wird die bestehende Fahrbahn einfach übernommen und asphaltiert. Oder sie wird den Anforderungen angepasst und asphaltiert, was leichte Abweichungen vom aktuellen Verlauf bedeuten würde: Einige Kurven sind nicht regelkonform und dürfen laut Gesetz nicht befahren werden. Dass man als Planer einer Fahrbahn überhaupt in Erwägung zieht, den aktuellen, gesetzwidrigen Straßenverlauf zu übernehmen, finde ich schon ungeheuerlich. Die dritte Alternative wäre eine komplett neue Trasse.

Natürlich haben alle drei Möglichkeiten Vor- und Nachteile.
Für die erste Überlegung, die vorhandenen Straße einfach zu asphaltieren, spricht zweifelsohne, dass dies keine (oder kaum) weitere Abholzung bedeuten würde. Dagegen spricht, wie gesagt, dass einige Kurven für den Verkehr von Kraftfahrzeugen eigentlich nicht geeignet sind. Es bliebe auch in Zukunft eng, wenn Busse und Lastwagen auf der Strecke verkehren.
Für die zweite Idee, die vorhandene Strecke auszubessern, spricht der relativ kleine Aufwand für eine ordentliche Fahrbahn. Doch es ist bereits abzusehen, dass bei diesem Vorhaben einige Grundstücke in Straße verwandelt werden. Das von Carolina, der Chefin der Zeitung, zum Beispiel.
Und die dritte Möglichkeit wäre aus Sicht aller Umweltschützerinnen und Umweltschützer ein Desaster. Eine schöne, neue, breite Fahrbahn – mitten durch den schrumpfenden Nebelwald, mitten durch eine der artenreichsten Gegenden der Welt.

Viele der Menschen, die hier leben, fordern die Straße vehement. Und jedes Dorf möchte am liebsten direkt an der Straße liegen. In Pucará möchte man also, dass die bisherige Trasse beibehalten wird: Weil man so an der neuen Straße leben würde. In Plaza Gutiérrez bevorzugt man die zweite oder dritte Lösung, um künftig nicht mehr so weit ab vom Schuss zu leben.

Dabei geht es wenig um Umweltschutz. Die Beweggründe der inte ños sind andere: Man möchte endlich eine Straße haben, die dazu geeignet ist, landwirtschaftliche Erzeugnisse schnell und günstig und in großen Mengen nach Otavalo zu transportieren. Man möchte mehr Busverbindungen haben. Man möchte, dass die Fahrt nach Íntag für auswärts lebende Familienangehörige leichter vonstatten geht. Ob es in Otavalo eine Nachfrage für Íntag-Produkte gibt? (Bananen, Mais, Zuckerrohr etc. werden auch andernorts angebaut, wesentlich näher an Otavalo und Ibarra.) Ob genügend Nachfrage für mehr Busverbindungen vorhanden ist? Ob die Verwandten bei einer besseren Straße tatsächlich jede Woche zu Besuch kämen? Das weiß niemand.

Sicher ist jedoch: Es wird eine große Umstellung sein, plötzlich an einer gut ausgebauten Straße zu leben. Der Verkehr wird voraussichtlich zunehmen und sicherlich schneller werden. Wie lange die Kindern, die jetzt auf oder direkt an der Straße spielen, brauchen, bis sie lernen, mit der neuen Situation umzugehen, wird sich zeigen. Mehr Verkehr heißt auch: Mehr Müll. Der massige Plastikmüll, der heutzutage am Straßenrand eingesammelt werden kann, ist erschreckend: Alles wird in Plastikverpackungen verkauft, und niemand macht sich die Mühe, diese Verpackungen in einen Mülleimer zu werfen. Die Bewohnerinnen und Bewohner Íntags, die so großen Wert auf Umweltschutz legen (und ihren Müll ins Feld werfen oder hinter dem Haus verbrennen), hören scheinbar gerne auf, sich über ihre Umwelt Gedanken zu machen, sobald sich ihnen irgendeine Form von Profit bietet. Immerhin: Es gibt Menschen, die davor warnen, eine Asphaltstraße zu bauen – weil dann alle Frauen Männer von außerhalb und alle Männer Frauen von außerhalb heiraten würden, und Íntag bald ausgestorben wäre. Dieses Argument könnte vielleicht ziehen bei den lieben inteños.

sábado, 9 de abril de 2011

Vergangenheit

EIN INTERESSANTES PHÄNOMEN in Íntag, Ecuador, Lateinamerika und vermutlich einigen anderen Ländern der sogenannten Dritten Welt auf anderen Kontinenten ist die Zeit. Dazu fällt mir immer wieder der Spruch ein, dass wir in den Industrieländern die Uhr hätten - und die Leute hier eben die Zeit. Zeitdruck kommt nie auf hier, nicht einmal bei der Zeitung: Wenn die Fristen in der Redaktion nicht eingehalten werden können, liegt das nicht an der langsamen und ineffizienten Arbeitsweise, sondern am zu früh angesetzten Ultimatum, das dann dementsprechend nach hinten verschoben wird.

Als ich also am Freitag früh aufbrach, um nach Apuela und von dort nach Peñaherrera, auf der anderen Seite des Tals, zu laufen, um dort wiederum mit der Umfrage weiterzukommen, die ich derzeit durchführe, wollte ich auf dem Weg eigentlich nicht viel Zeit verlieren: Vor mir lagen immerhin mehr als zwanzig Kilometer und einige Gespräche; auf Busfahrten wollte ich verzichten und wusste dass ich gegen sechs Uhr am Abend wieder bei Doña Emilia sein müsste.

Natürlich wurde mir ein Strich durch den Zeitplan gemacht. Die erste Frau, die ich um die Teilnahme an der Umfrage bat, wies mich ab und riet mir, beim Haus gegenüber zu fragen. Dort wohnt Don César Gilberto Pavón, den ich zwar kenne, dessen Adresse ich aber noch nicht in Erfahrung gebracht hatte. Ich rief also von der Straße aus und fragte, ob ich eintreten könnte. Und da trat Don César aus dem Haus heraus und öffnete mir das Gartentor.

Don César verfasst für jede Ausgabe des Periódico ÍNTAG ein Gedicht und ist somit einer der ganz seltenen, vielleicht sogar der einzige Poet in Íntag. Er lebt, wie ich jetzt weiß, in einem kleinen Lehmhaus etwas außerhalb Apuelas, umgeben von Bananenstauden und Kaffepflanzen. Seine Familie kam erstmals neunzehnhundertvier nach Íntag, als ein Bruder seines Großvaters Land suchte, nachdem er vom Gut seines Großgrundbesitzers geflohen war. Im Laufe der Jahre zogen weitere Teile der Familie nach, unter anderem Don Césars Großvater.

Eine von Don Pavóns Töchtern war von Geburt an taubstumm. Weil sie jedoch sonst ohne weitere Einschränkungen lebte, fiel sie in Íntag kaum auf. Sie arbeitete auf den Feldern und gebahr neunzehnhundertfünfundfünzig ihr einziges Kind, Don César. Der wurde von einer Tante großgezogen. Er interessierte sich sehr für Poesie und Musik, spielte in einigen Musikgruppen und nahm rege am sozialen und politischen Leben in Íntag teil.

Ein paar Episoden seiner persönlichen Geschichte schilderte mir Don César, als ich am Freitag bei ihm vor der neuen, sich noch im Bau befindlichen Holzhütte saß, um eigentlich nur ein paar Fragen für die Umfrage zu stellen. Aus den geplanten zwanzig Minuten wurden dann rund zwei Stunden: Ich durfte mir sämtliche Fotos ansehen, die der Herr geschossen hatte, und ein paar alte Aufnahmen aus seiner Jugend.

Es war irgendwie surreal, wie Don César, dessen Hautfarbe im Vergleich zu der seiner Vorfahren schon sehr verblasst ist (sein Vater war ein Mestize), da vor mir saß: Mit seinen Zähnen, die so weiß und gerade und makellos sind, dass ich ihre Echtheit bezweifle, seinen Händen, denen man die harte Feldarbeit deutlich ansieht, seinen Füßen, die vom Barfußlaufen ganz schwarz sind - und zeigt mir Bilder aus den Siebzigern, auf denen er mit Afro, Koteletten, und Diskooutfit zu sehen ist!

Zur gewohnten Zeitverzögerung, die ich schon zu genüge kenne, gesellte sich also plötzlich dieses Element, dessen Existenz ich in Íntag nie erwartet hätte: Die Bäuerinnen und Bauern hier sehe ich nun jedenfalls mit anderen Augen. Waren sie vielleicht vor dreißig oder vierzig Jahren alle eher auf Tanzflächen in der Hauptstadt zu finden als auf ihren Feldern, wie man heute meinen könnte?

sábado, 2 de abril de 2011

Unruhen im Paradies

ALS DER STROM ausfällt, wird es unübersichtlich unter dem Plastikdach des großen, weißen Pavillons, der speziell für diese Veranstaltung aufgebaut wurde. Unzählige Stimmen erfüllen die Luft, doch keine ist mehr deutlich zu verstehen, jetzt, da das Mikrofon nicht mehr funktioniert. Der einsetzende starke Regen tut das Übrige: Das Wasser läuft in den Pavillon, der Erdboden verwandelt sich stellenweise sofort in ein schlammiges Bachbett. Die meisten der Personen, die angereist sind, brechen auf. Einige trotzen dem Regen und reisen auf einer der Ladeflächen der zahlreichen Pritschenwagen ab, andere finden Platz in einem Fahrzeug und müssen sich um das Wetter nicht mehr kümmern. Zurück bleiben die Einwohnerinnen und Einwohner von El Paraíso, unter ihnen Don Julio, der gerade eben mit seinem Sohn derart aneinandergeraten ist, dass eine Schlägerei kaum noch zu verhindern war.

Dass Íntag für Bergbauunternehmen kein gutes Pflaster ist, sollte eigentlich bekannt sein: Was vor ein paar Jahren in Junín passiert ist, wurde in einigen Filmen dokumentiert und weltweit bekannt gemacht – zumindest in Umweltschützerkreisen und bei anderen Naturliebhabern. Damals fing ein kanadisches Bergbauunternehmen an, Kupfer in Junín abzubauen. Dafür musste zunächst der Boden genau untersucht werden, um die reichhaltigen Metallvorkommen zu belegen. Bohrungen wurden unternommen – ein kleiner und ungefährlicher Eingriff, könnte man denken: Es werden keine schweren Geschütze aufgefahren, und nicht einmal ein Baum muss für diesen Arbeitsvorgang gefällt werden. Allein, die Bohrungen stießen auf arsenhaltige Grundwassereinschlüsse – dieses Wasser dringt seitdem an die Erdoberfläche und vergiftet still und leise angrenzende Wasserläufe und den Boden. Nach den Bohrungen kam dann erst die eigentliche Arbeit: Der Kupferabbau. Der führte dazu, dass Wasserläufe weiter verdreckt wurden, Vieh starb und Menschen erkrankten. Trotz der einmaligen Möglichkeit auf relativ gut bezahlte Arbeit fingen die Bewohnerinnen und Bewohner Juníns an, sich gegen das ausländische Minenunternehmen zu wehren.

Nach einigen Jahren des zähen Widerstandes erreichten die Dorfbewohner, wofür sie gekämpft hatten: Das Unternehmen legte die Arbeit in Junín nieder und verließ Íntag. Die Umweltschutzbewegung in der Region war geboren, einige Organisationen hatten sich mittlerweile hier niedergelassen. Und einige Familien und Freundschaften waren in die Brüche gegangen durch die heftigen Meinungsverschiedenheiten zwischen anti mineros und pro mineros.

Nun möchte das chilenische Unternehmen CODELCO anfangen, aus den Kupfervorkommen in Íntag Kapital zu schlagen. Zu diesem Zweck wurde in den vergangenen Wochen und Monaten fleißig geforscht und untersucht, Geologen, Biologen, Soziologen und andere Experten setzten sich mit den möglichen Auswirkungen auf Natur und Mensch auseinander. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sollten der Bevölkerung von El Paraíso nun vorgestellt werden, um bald mit dem nächsten Schritt fortzufahren; den Bohrungen, die große Kupfer- und Goldvorkommen beweisen sollen und im Falle eines Falles dem Abbau dieser Metalle im großen Stil vorausgehen.

Spannung liegt in der Luft, als die Veranstaltung beginnt. Ein paar hundert Frauen und Männer, Kinder und Greise haben sich eingefunden, um der Vorstellung der Untersuchungsergebnisse beizuwohnen. Das Bergbauunternehmen hat einen großen Pavillon aufgebaut, der Schutz vor möglichen Niederschlägen bieten soll und für den nötigen Schatten für die Beamerpräsentation sorgt. Plastikstühle stehen an Plastiktischen – die Sitzgelegenheiten reichen jedoch bei weitem nicht aus. Mitarbeiterinnen der Firma bitten die Gäste um deren Unterschriften auf einem Dokument, das niemand kennt und um das die meisten einen weiten Bogen machen. Was wird nun folgen? Wird für Arbeit und Einkommen gesorgt, oder wird auch dieses Unternehmen nur auf die natürlichen Vorkommen scharf sein und sich nicht um die sozialen Bedürfnisse der von ihr heimgesuchten Gemeinde scheren?

Als die meisten der Stühle besetzt sind und noch immer zahllose Menschen um den Pavillon stehen, ergreift eine kleine Frau das Mikrofon und sogleich das Wort. Sie trägt eine weiße Bluse, enganliegende Jeans und Schuhe, die aussehen, als würden sie einige Kilos wiegen. Ihre Stimme ist fest, ihr Blick direkt – und die Frisur sitzt. Im Kurzdurchlauf erklärt sie, worum es heute geht. Stellt den Ablauf der heutigen Veranstaltung vor: Fragen und Einwände kommen ganz am Schluss.

Doch bevor der Experte von CODELCO richtig anfangen kann mit seinem Diskurs, wird er unterbrochen: Die Präsidentin der Gemeinde García Moreno, zu der auch El Paraíso gehört, baut sich neben ihrer Vorrednerin auf, die sich im Gegensatz zur lokalen Autorität geradezu winzig ausnimmt. Der Chilene, der eigentlich an der Reihe ist mit dem Reden, verstummt und vergisst in seiner Überraschung ganz, der Gemeindepräsidentin das Mikrofon zu reichen. Diese empört sich auch ohne elektronische Hilfsmittel lautstark: Wie es sein könne, dass die örtlichen Autoritäten nicht über derlei Treffen informiert würden. Für wen man sich halte, wenn man der Bevölkerung und sowie Vertreterinnen und Vertretern die dreihundert Seiten starke Schrift über die Ergebnisse der Untersuchung vorbehalte. Wie man ein Verhalten rechtfertige, das ganz offensichtlich ganz und gar nicht mit der Verfassung in Einklang zu bringen ist. Und während die lokale Autorität fragt und wettert, erweckt die Zuhörerschaft zum Leben. Die wütende Frau wird beklatscht und bejubelt, die Repräsentanten des Unternehmens müssen sich zahllose Vorwürfe anhören Am häufigsten den, dass sie das Mikrofon nicht an die aktuelle Rednerin weiterreichen – was sie jedoch zu keinerlei Reaktion veranlasst.

Nach einigen Minuten glätten sich die Wogen. Der chilenische Gast kann seinen Vortrag halten, und auch die anderen Redner kommen noch zu Wort. Das Vorhaben sei im Grunde ganz einfach: Man würde zunächst drei bis zehn Bohrungen vornehmen, jeweils bis zu fünfhundert Meter ins Erdreich. Diese Bohrungen dienen der Bestätigung der Metallvorkommen im Boden. Sollte man dabei nicht fündig werden, wäre das Unternehmen bereits beendet. Bei nennenswerten Kupfer- und/oder Goldvorkommen stünde hingegen die nächste Etappe an: Die Bohrung von bis zu achtundfünzig weiteren Löchern. All dies sei ganz einfach und vollkommen ungefährlich: Es würde im ersten Schritt nur eine kleine Maschine eingesetzt, für den möglichen zweiten Abschnitt würden insgesamt maximal vier Maschinen ausreichen. Diese Maschinen würden mit Diesel betrieben, weitere für die Umwelt schädlichen Stoffe würden nicht eingesetzt. Dennoch würde man darauf achten, dass jede Maschine auf einer Geomembran stehe, um dafür zu sorgen, dass kein einziger Tropfen Diesel ins Erdreich sickern kann. Natürlich würde man keine Bäume fällen, und nach Abschluss der Arbeiten würde man sogar neue Pflanzen sähen auf den kleinen Flächen, die sieben mal sieben Meter messen und für jede der Bohrungen von Vegetation befreit werden müssen. Weder für Flora noch für Fauna bestünde also Gefahr – abgesehen davon handele es sich bei der Fläche, auf der die Bohrungen unternommen werden sollen, sowieso nur um Weideland und Sekundärwald.

Nach dem Vortrag wird den Zuhörerinnen und Zuhörern das Wort erteilt. Haben sie Fragen? Haben sie Bedenken? Oder gar Vorschläge? Allgemeines Schweigen macht sich breit, so still war es an diesem Nachmittag noch nicht. Nur ein älter Herr mit langem, weißen Haar und einem wild wuchernden weißen Vollbart steht auf. Als er das Mikrofon ergreift, dringt ein unverständlicher Wortschwall aus seinem Mund heraus, über Mikrofon und Lautsprecher in die Gehörgänge aller Anwesenden. Spricht er englisch oder spanisch? Erst nach einigen Sekunden bekommt er Atem und Zunge unter Kontrolle und setzt nach einer kurzen Pause wieder an. Er spricht spanisch, mit einem nicht zu verkennenden nordamerikanischem Einschlag. Warum habe man ihn als Besitzer des Naturreservates »Los Cedros« nicht ein einziges Mal gefragt oder zumindest über das Vorhaben des Unternehmens in Kenntnis gesetzt? Immerhin liege sein Grundstück zum Teil auf der achthundert Hektar messenden Fläche, die von den Bohrungen betroffen sein würde. Das, stellt der chilenische Spezialist klar, stimme so nicht ganz: Immerhin könne man das aus unterschiedlichen Perspektiven sehen – je nachdem, ob man mit Metern oder Kilometern messe. Verblüffung im Publikum, lautes Lachen – auch das mit Akzent – seitens des Besitzers des Naturschutzgebietes. Das Eis ist gebrochen, unzählige Arme werden in die Luft gestreckt, als die kleine Dame fragt, ob mehr Klärungsbedarf bestehe.

Im weiteren Verlauf der Befragung wird der anwesende Vertreter der Provinzregierung als ahnungsloser und unwichtiger Herr enttarnt, der nicht etwa die Aufgabe hat, die Regierung zu vertreten, sondern eine simple Einladung vom Unternehmen erhalten hat. Ein weiterer Herr gibt das Mikrofon ganz schnell wieder ab, als er zu einer Antwort anheben möchte und man ihn fragt, wer er eigentlich sei und welche Position er bekleide. Für ihn springt ein anderer in die Presche. Er soll der einzige an diesem Nachmittag bleiben, der das Minenunternehmen nicht aussehen lässt wie einen Haufen ahnungsloser und frecher Emporkömmlinge. Das Gelächter ist groß, als der ratlose Politiker auf die Frage nach der Rechtmäßigkeit des Vorgehens des Unternehmens keine Antwort findet und ein paar komplett unangebrachte Worte ins Mikrofon stammelt. Die Frage, was genau denn so ungefährlich sei an dem Vorhaben, wenn erstmal arsenhaltiges Grundwasser in die Bäche laufe und was genau die Begrünung der Flächen um die Bohrlöcher bringen würde, wenn mitten durch das Grün giftiges Wasser aus dem Bohrloch pulsiert. Auch noch nach fünfzehn Jahren, wie in Junín, wird vom Gast aus Chile weise beantwortet: Man habe nicht vor, Arsen bei den Arbeiten einzusetzen. Und was, wenn man fündig würde? Würde man dann wieder abziehen, mit den kleinen Maschinen und die Bohrungen Bohrungen sein lassen? Oder habe man vor, dann mit anderen Kalibern anzurücken, um riesige Löcher in die Berge zu reißen und tausende Tonnen wertvoller Bodenschätze abzutransportieren? Eine Antwort gibt es darauf nicht. Nicht heute.

Einige junge Männer und Frauen bahnen sich ihre Wege durchs Publikum, um den vom Bergbauunternehmen gesponserten Snack zu servieren. Es gibt Sandwich mit geschmacklosem Etwas – Putenbrust? –, ein paar Süßigkeiten und eine kleine Coca-Cola für jeden. Übrig bleibt jeweils eine leere Einwegplastikflasche, ein Plastikteller und eine kleine Plastiktüte. Da haben die Herren Biologen ganze Arbeit geleistet.

Und in der Tat können sie, genau wie ihre Kollegen Geologen und die Marionetten aus der Politik, zufrieden nach Hause fahren: Sie wissen zwar, dass sie niemals willkommen sein werden in dem Dorf und dass es im Augenblick gar nicht gut aussieht für das Vorhaben in El Paraíso. Aber sie haben das Wichtigste erreicht: Die wenigen Bewohnerinnen und Bewohner der Gegend, die den Bergbau als arbeitsplatzschaffende Maßnahme begrüßen, haben bereits für viel Unmut gesorgt, und wenn nicht ganz genau aufgepasst wird, wie es weitergeht, steht auch die Bevölkerung von El Paraíso vor der Teilung in zwei Lager. Wenn es erst einmal so weit ist, dass die Menschen vor Ort sich untereinander anfeinden und bekämpfen, ist es ein leichtes für das Unternehmen, all seine Vorhaben in die Tat umzusetzen. Beim Gedanken an den heftigen Streit zwischen Don Julio, einem drahtigen Sechzigjährigen aus El Paraíso, und seinem Sohn werden die Angestellten von CODELCO und ihre Verbündeten noch einige Zeit zufrieden einschlafen können.